Damals war alles anders
von Marianne Schäfer
Wir lebten damals schon in unserem kleinen Häuschen in Müggelheim. Unsere Wohnung in der Stadt war seit März 1944 unbewohnbar und wir waren froh, dass wir hier viel weniger von dem Kriegsgeschehen erleben mussten. Unser Vater wurde nun noch Soldat und Mutti war mit uns drei Kindern und den beengten Wohnverhältnissen reichlich beschäftigt. Es war schon Ende November und das regnerische, kalte Wetter lockte uns nicht, um draußen zu spielen. Dann wurde unser kleiner Bruder sehr schwer krank und für uns Mädels bestand Ansteckungsgefahr. Mutti bat im Freundeskreis um Hilfe und daraufhin wurde meine Schwester von Onkel und Tante abgeholt und ich durfte mit der Tante Mia eine Reise mit der "Eisenbahn" machen.
Da war ich nun im Erzgebirge, in dem kleinen, verschneiten Ort Kipsdorf. Hier wohnte auch nur vorübergehend die Tante Irmgard mit ihren fünf Kindern und ich kam nun als sechstes Kind dazu. Es war genau so eng wie bei uns zu Hause, aber für uns Kinder war das kein Problem. In dem kleinen Holzhäuschen standen vier Betten in einem Stübchen und das Baby schlief in einem Kinderwagen in dem Zimmer wo die beiden Tanten schliefen. Ich durfte dann das Bett mit Christel teilen, denn sie war wie ich auch gerade neun Jahre alt.
Ich erinnere mich noch deutlich an die zauberhafte Winterlandschaft. Dick verschneite Fichten ließen ihre Äste hängen, der kleine Bach, welcher nicht weit vom Haus entfernt rauschte und sprudelte, so dass ich dieses noch abends in der Stube hörte. Ich war gerne in diesem vertrauten Kreis. Tante Irmgard ging in einer Weberei arbeiten, nur die Tante Mia war bei uns. Wir Kinder bauten einen riesigen Schneemann und in dem Bach ließen wir Schiffchen aus Papier oder aus geschnitztem Holz fahren. Dann taute die ganze Pracht. Alles war nass, auch unsere Schuhe. Darum durften wir nicht raus. Mit Tante Mia bastelten wir viele Sternchen aus Stroh, welches sie von den Bauern, als sie einkaufen war, mitgebracht hatte. Es war die schöne Vor-Weihnachtszeit und wir sangen all die vertrauten Lieder. Bald nun ist Weihnachtszeit, Kling Glöckchen klingelinge-ling, und wir übten die Weihnachtsgedichte. Drauß vom Walde komm ich her,-- das klang hier so glaubhaft. In Gedanken sahen wir den Weihnachtsmann wie er durch den finsteren Wald, der unserem Häuschen so nahe war, stapfte. Natürlich würde er einen großen, dicken Sack voller Geschenke zu uns bringen und wir sagten uns gegenseitig unsere Wünsche. Tante Mia sagte: "Wenn ihr alle artig seid!" Ja, das wollten wir sein.
Am nächsten Adventsonntag, als Tante Irmgard nicht arbeiten musste, buken wir mit ihr in der Küche viele Kekse. Wir hatten die Ärmel hochgekrempelt und die Hände voller Mehl. Hildegard hielt die Schüssel in die Tante Irmgard die Eier geschlagen hatte. Dann kamen der Zucker, die Butter und all die Zutaten, damit es richtige Weihnachtskekse werden. Es wurde gerührt und geknetet und dann endlich ausgerollt. Jetzt konnten wir Mädels, Hildegard, Christel, Monika und ich, auf dem Küchentisch mit den Ausstecher-Förmchen die Sterne, Herzen und Tannenbäumchen ausstechen. Johannes legte sie dann auf das Backblech und Tante Irmgard schob das Blech in den Backofen.
Es duftete schon richtig weihnachtlich. Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Bevor wir zum Schlafen in die Betten gingen, wollten wir noch die hunderttausend Sterne sehen. Wir traten vor das Haus. Es war alles still und friedlich. Hier gab es keinen Fliegeralarm und keine Bomben. Am tiefdunklen Himmel glitzerten und funkelten die Sterne. Als wir dann alle in unseren Betten lagen kam Tante Irmgard zu jedem von uns. Sie streichelte über unsere Haare und fragte jeden, "was hast du heute Schönes erlebt und dann auch, was hast du heute Trauriges oder Böses erlebt?" Ganz leise flüsterten wir dann mit ihr und erzählten ihr das Schöne und das Traurige. Dann schliefen wir friedlich bis zum Morgen.
Bis zum Heiligabend war es nicht mehr lange. Es hatte inzwischen wieder kräftig geschneit. Es war mühevoll von unserem Waldhäuschen hinunter in das Dorf zu laufen. Die Großen begleiteten Tante Mia mit dem Schlitten, nur Christel sollte hier im Häuschen aufpassen, dass wir keine Dummheiten machen. Haben wir auch nicht. Wir malten und bastelten und schmückten die Fenster mit all den Sternen, die an dünnen Fäden an den Tannenzweigen, im Fenster aufgehangen wurden. An den Adventssonntagen saßen wir alle zum Nachmittag am Tisch. Tante Irmgard hatte einen Adventskranz geflochten, in dem vier rote Kerzen, für jeden Advent eine steckten. Jeden Sonntag wurde eine Kerze mehr angezündet. Es gab keinen Kuchen, nur unsere warme Milch, weil die Marken auf den Lebensmittelkarten schon beinahe alle abgeschnitten waren. Einige Marken sollten noch für das Weihnachtsfest zum Einkauf bleiben.
Wir hatten Hunger, aber bei dem gemeinsamen Singen und dem Kartenspiel vergaßen wir das. Jetzt brannten schon alle vier Kerzen auf dem grünen Kranz. Tante Irmgard erzählte uns, dass sie nur für uns ein kleines Krippenspiel einüben will. Jeder wurde verkleidet als Maria und Joseph, als die Weisen aus dem Morgenland und die beiden kleinsten sollten die Engelchen sein. Jeder bekam einen Text, welcher auswendig gelernt werden sollte. Und dann war er endlich da, der heilige Abend. In der Nacht hatte es noch mehr geschneit und es war bitter kalt geworden. Johannes und ich stapften noch mal zu meinem geliebten Bach. Einige Steine am Rand des Baches waren auch verschneit. Andere waren mit einer Eisschicht eingehüllt und der Bach sprudelte und gluckste in seinem dunklen Wasser. Ich sah schnell kurz in den verschneiten Tannenwald, vielleicht war der Weihnachtsmann schon unterwegs? Nein, noch war es nicht Abend.
Johannes musste viel Schnee schippen, aber bis ins Dorf war es viel zu weit. Wir waren eingeschneit. Tante Mia bereitete in der Küche das Weihnachtsessen und Tante Irmgard schmückte mit uns Kindern den kleinen Tannenbaum. Es duftete im ganzen Haus nach Braten und nach dem Tannenbaum. Dann wurde es dunkel und wir wurden auch immer stiller. Das gefiel Tante Irmgard gar nicht. Sie begann zu singen und wir sangen dann auch alle mit. Bis es auf einmal kräftig am Fenster klopfte. Ein verschneiter Weihnachtsmann mit weißem Bart versuchte uns durch die Eisblumen an den Fensterscheiben zu sehen. Tante Irmgard öffnete ihm die Tür. Der Schnee fiel von seinem roten Mantel, als er den kleinen Sack von der Schulter nahm. Wir sagten artig unsere Gedichte auf und jeder von uns bekam ein kleines Geschenk. Für alle war ein Christstollen, der war ein Geschenk von einem Bauern im Dorf.
Während wir unsere Geschenke auspackten hatte Tante Irmgard dem Weihnachtmann einen Schnaps angeboten. Nun stapfte er schon wieder weiter zu den anderen Kindern.
Wir waren alle voller Freude und begeistert schlüpften wir in die vorbereiteten Kleider und es wurden Fotos gemacht. Der kleine Ralf hüpfte mit seinem weißen Kleidchen durch die Stube und das zweite Engelchen Monika immer hinter ihm hinterher. Die großen Mädels sahen prächtig aus mit ihren wertvollen Gardinen-Kleidern und dem goldenen Kopfputz. Tante Mia und Tante Irmgard waren auch verkleidet und jeder sprach seinen Text aus der Weihnachtsgeschichte. Wir alle spielten, sangen und freuten uns über die kleinen Geschenke und wir aßen genüsslich unser festliches Essen. Diese letzte Kriegs-Weihnachtszeit, so weit von meiner Familie entfernt, habe ich nie vergessen.
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