Der Streit um den Darsteiner Weg
Zur Geschichte einer kleinen Straße
von Herbert Pieper
Am 30. Oktober meldete die „Berliner Zeitung“: „Der Ort Darstein wählte einst zu 100 Prozent NSDAP. Berlin ehrte das Dorf mit einer Straße – bis heute.“ Diese Straße in Berlin ist der Darsteiner Weg in Müggelheim. Und die Art der Namensgebung sorgte jetzt für teils hitzige Diskussionen.
Quelle für diese Meldung ist das Buch „Hauenstein gegen Hitler. Die Geschichte einer konfessionellen Lebenswelt“ von Theo Schwarzmüller (dem Leiter des Instituts für pfälzische Geschichte und Volkskunde), das am 2. November im südwestpfälzischen Hauenstein präsentiert wurde. Die Laudatio hielt Altbundeskanzler Helmut Kohl. Hauenstein stimmte bei der letzten freien Reichstagswahl am 5. März 1933 fast geschlossen gegen Hitler.
Zur Erinnerung: Am 30. Januar 1933 wurde Hitler verfassungskonform zum Reichskanzler ernannt. Mit dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 erlosch die Demokratie in Deutschland.
Darstein ist ein Nachbarort von Hauenstein. Die beiden unterschiedlich großen Dörfer trennen nicht nur die damaligen Wahlergebnisse. Es gab verschiedene soziale Unterschiede, die Einwohner gehörten verschiedenen Konfessionen an (Darstein fast vollständig evangelisch, Hauenstein vorwiegend katholisch).
Der SPD-Fraktionsvorsitzende der Bezirksverordnetenversammlung Treptow-Köpenick soll sich – so schrieb das „Berliner Abendblatt“ – wie folgt geäußert haben: „Ich wünsche mir, die Müggelheimer würden sich einmal tiefer mit ihrer Geschichte befassen, beispielsweise auch damit, warum Straßen nach Orten in Ostpreußen benannt wurden, die nach dem Versailler Vertrag nicht mehr zu Deutschland gehörten“. Vorab: In Müggelheim gibt es keine Straßen, die nach Orten aus dem Memelgebiet bzw. dem Gebiet um Soldau (Teilen von Ostpreußen, die nach dem Versailler Vertrag an den Völkerbund bzw. an Polen abgetreten wurden) bezeichnet sind. Aber es gibt den Darsteiner Weg.
Im Folgenden werden die relevanten Fakten über Darstein und den Darsteiner Weg skizziert.
Die erste urkundliche Erwähnung Müggelheims ist bekanntlich mit dem Datum 1. Juni 1747 versehen. In der Urkunde wird das aufzubauende Dorf Müggelheim namentlich erwähnt, nicht aber der oder die Orte aus dem oder denen die Kolonisten stammen. Wir wissen, dass die Erbauer von Müggelheim aus dem Herzogtum Pfalz-Zweibrücken, nämlich aus Odernheim am Glan und aus dem unweit von Odernheim gelegenen Oberhausen an der Nahe kamen.
Als der Pfarrer der reformierten Köpenicker Schlossgemeinde, Karl Schwarzlose, im Jahre 1897, anlässlich der 150jährigen Wiederkehr der ersten urkundlichen Erwähnung Müggelheims, die erste „Chronik“ des Ortes verfasste, kannte er die Herkunftsorte der Müggelheimer Kolonisten nicht.
Damals waren in Müggelheim (das zum Landkreis Teltow gehörte) noch 14 Wirtschaften in den Händen der Nachkommen der ersten Kolonisten. Die Parzellierungen des Müggelheimer Landes begannen Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Jahre 1914 hatte Müggelheim 35 Häuser und etwa 180 Einwohner. 1920 wurde das Dorf in Berlin eingemeindet. Waren bis dahin noch die Häuser durchnummeriert, erhielten nun die Wege und Straßen, die im Entstehen begriffen waren, Nummern. So bekam die heutige Odernheimer Straße, die nichtamtlich als Rahnsdorfer Weg bezeichnet wurde, die Nummer 664. Die 20er und 30er Jahre waren die Zeit der Siedlungspioniere in Müggelheim. 1925 hatte der Ort bereits 284 Einwohner. Die Einwohnerzahl Müggelheims stieg rapide: 1932 875 Einwohner, 1935 1800 Einwohner, 1938 2525 Einwohner.
Am 25. September 1926 erschien in der Zeitschrift „Der Pfälzer in Berlin“ ein Aufsatz von Karl Schworm (1889-1956) aus Odernheim. Er war nach Durchsicht der Kirchenbücher von Odernheim zum Ergebnis gekommen: „Müggelheim bei Köpenick ist eine Gründung pfalz-zweibrückischer Untertanen aus Odernheim am Glan und Umgebung“.
Knapp zwei Jahre später begann man die Müggelheimer Straßen nach Orten, die vorwiegend in der Pfalz liegen, zu bezeichnen. Am 16. August 1928 erhielten zehn Straßen ihren Namen nach Ortschaften aus der Umgebung von Odernheim. Diese Orte waren Odernheim, Staudernheim, Sobernheim, Abtweiler, Rehborn, Raumbach, Meisenheim, Callbach, Becherbach, Lettweiler. Die spätere Duchrother Straße hieß Gartenstraße. Der Krampenburger Weg erhielt damals seinen Namen, ebenso wie die Siefersheimer Straße (nach einem Ort südöstlich von Bad Kreuznach) und die Glottertaler Straße (nach dem Weinort bei Freiburg). In den folgenden zwei Jahren erhielten weitere Straßen einen Namen, z.B. der Pelzlakeweg, der Geinsheimer Weg (das Weindorf ist heute ein Ortsteil von Neustadt an der pfälzischen Weinstraße), der Ludwigshöheweg (benannt nach dem Pfälzer Schloss „Villa Ludwigshöhe“ an der pfälzischen Weinstraße oder nach dem ersten Siedler Franz Ludwig im Gebiet der heutigen Ludwigshöhe), der Hornbacher Weg (Ort südlich von Zweibrücken). Drei Pfälzer Orte, nämlich Annweiler (westlich von Landau), Duchroth (Nachbarort von Odernheim) und Darstein (südlich von Annweiler) gaben 1935/1936 Müggelheimer Straßen den Namen. Darüber hinaus wurde die Dorfaue bzw. Dorfstraße zu Alt-Müggelheim, die Namen Müggelheimer Damm, Gosener Damm wurden amtlich, die Straße „Am Müggelberg“ und der Tongrubenweg erhielten ihre Namen. Nun hatten immerhin elf Müggelheimer Straßen nach Orten in der näheren Umgebung von Odernheim ihre Bezeichnung (nicht alle gehörten 1747 zum Herzogtum Pfalz-Zweibrücken). An Hallgarten dachte man erst 1942, an Norheim erst 2003. Manche Orte, darunter Oberhausen und Obermoschel, wurden bis heute nicht berücksichtigt. Dafür wurden zahlreiche Orte, insbesondere Weindörfer, aber auch Flüsse, als Namensgrundlage genommen, die teilweise ziemlich weit von Odernheim entfernt liegen. Einer der kleinsten dieser Orte ist Darstein. Am 13. Juni 1936 erhielt die Straße 693 den Namen „Darsteiner Weg“.
Das kleine Walddorf liegt in der Südwestpfalz im Dahner Felsenland südöstlich von Pirmasens, südwestlich von Landau. Der Ort war damals landwirtschaftlich geprägt. Er hatte 1930 nur 156 Einwohner. Bei der Reichstagswahl am 14. September 1930 wählten die 106 Wahlberechtigten Darsteins zu 100 Prozent die NSDAP. Seit der Bismarckzeit hatten sie vorwiegend die Nationalliberalen und dann deren Nachfolgepartei, die bürgerlich-liberale Deutsche Volkspartei (des Außenministers Gustav Stresemann) gewählt.
Der Historiker Theo Schwarzmüller nennt mehrere Faktoren für den Erfolg der NSDAP: die Konfessionszugehörigkeit, die kleine Zahl der Wähler im Ort, die starke NSDAP-Ortsgruppe, Probleme in der Landwirtschaft und auf dem Holzmarkt, das Gefühl, dass die bayerische Landesregierung (Zentrum/Bayerische Volkspartei) in München Darstein vernachlässigt, Unmut über eine fehlende Wasserleitung (deren Realisierung der NS-Gauleiter der Pfalz versprach).
Es schien eine Protestwahl zu sein. Doch wenig später traten die Darsteiner geschlossen der NS-Ortsgruppe bei.
Das Wahlergebnis von 1930 blieb in der Hakenkreuzära in NS-Kreisen lebendig. Darstein wurde „Ehrenmitglied der NSDAP“, worüber sogar die Hamburger Illustrierte berichtete. Andere kleinere Orte (wie Darsteins westlicher Nachbarort Oberschlettenbach) wählten nach Darsteiner Vorbild bei der Wahl im November 1932 auch hundertprozentig die Hitler-Partei. Zum fünf- und zum zehnjährigen Jubiläum der Reichstagswahl 1930 würdigten NS-Zeitungen das Bekenntnis des „Hitlerdorfs“ Darstein. In den Kinos lief der Wochenschaufilm „Klein-Darstein – ein Vorbild für Groß-Deutschland“. Es sind bis heute keine Belege (in Archiven) dafür gefunden worden, dass hier die Motive für die Namensgebung „Darsteiner Weg“ zu suchen sind.
Abschließend sei erwähnt, dass bei den beiden ersten Bundestagswahlen im 21. Jahrhundert etwa 50 % der in Darstein abgegebenen Erst- und Zweitstimmen der SPD galten, die CDU errang über 20%. Noch 1967 stimmten 46 % der Darsteiner Wähler für die NPD.
Darstein hat heute etwa 230 Einwohner und gehört zur Verbandsgemeinde Hauenstein, die zum Wahlrkreis Pirmasens gehört. Ein wichtiger Wirtschaftszweig des Ortes ist der Tourismus: Das sagenhafte Land der Felsen und Burgen im südlichen Teil des Biosphärenreservats Naturpark Pfälzerwald (Dahner Felsenland) ist eine der romantischsten Landschaften Europas.
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